Eine französische Nacht

Paris, Paris – eine Nacht in der Capitale

von Philip van Buren

Eine französische Nacht

Paris um 1900: Eifelturm, Gelände der Weltausstellung

Eine französische Nacht: Paris, die Stadt der Liebe. Wer sie liebt, verfällt ihr, und wen sie liebt, den verzehrt sie. Es gibt kaum einen europäischen Komponisten, dessen Weg nicht nach Paris geführt hätte: Chopin, Offenbach, Liszt, Cherubini, Rossini, Meyerbeer – die Liste vollständig fortzusetzen, wäre ein heilloses Unterfangen. Länger wäre wohl nur noch die Liste der französischen Komponisten, die in irgendeiner Weise mit ihrer Capitale verbunden sind – Bizet, Berlioz, Debussy, Ravel, Saint-Saëns, Lully, Boulez, um nur einige von ihnen zu nennen.

Die schönsten Säle, die besten Lehrer, die größten Aussichten auf Erfolg – all das waren und sind Gründe für jeden Künstler, sein Glück an der Seine zu versuchen. Hinzu kommt ein Lebensgefühl, das, fernab der vom Terrorismus unserer Zeit geschürten Ängste, von Lebensfreude und vom Savoir-vivre gekennzeichnet ist; Paris ist das Leben.

Eine Nacht mit Jacques Offenbach, Georges Bizet…

Kein Wunder also, dass der gebürtige Kölner Jacques Offenbach sich nach seiner Ankunft als 14-jähriger im Jahr 1833 für immer dort niederliess und die Stadt danach kaum noch verlassen hat. Große Erfolge und völlige Bankrotte wechselten sich für den Komponisten, Cellisten, und Theaterleiter in katastrophaler Regelmässigkeit ab. In Friedenszeit hoch verehrt, während des Krieges mit Deutschland aus Sicherheitsgründen auf langen internationalen Reisen gemeinsam mit seiner Familie, steht er wie kaum ein anderer Komponist für das Auf und Ab, welches die Stadt ihren Bewohnern von jeher angetan hat. Offenbachs Publikum bestand zeitlebens aus einer Mischung aus Adel und Halbwelt, das Amüsierpotential seines Theaters schloss keinen Stand aus. Seine Operette La Belle Hélène wurde nicht zuletzt dank der teilweise unbekleideten Hauptdarstellerin Nacht für Nacht zu einem seiner größten Erfolge. Die bissige Ironie der Texte kennt keinen Unterschied zwischen Oben und Unten, verschont weder Arme noch Reiche, und seziert die Gesellschaft bis in die Gegenwart hinein. In der Ouvertüre, die erst nachträglich zusammengestellt wurde, werden einige der unsterblichen Melodien dieses Werkes zu einem Potpourri zusammengefasst. Noch heller als Helena leuchtet Orpheus aus der Unterwelt bis ins Hier und Jetzt. Es gibt Musiken, die nur noch niedergeschrieben werden müssen, um der Allgemeinheit zu gehören. Der Cancan gehört dazu. Ein Jeder kennt ihn, und wer ihn doch nicht kennt, erkennt ihn trotzdem sofort. Er ist das Bindeglied zwischen Lebenslust und Intellekt, zwischen Herz und Kopf, zwischen Gut und Böse. Köstlich sind die ironischen Ausflüge in die Götterwelt, brachial und lustvoll die Reisen in die Niederungen des doch so irdischen Souterrains unserer Welt. Was bei Wagner Walhall und die Nibelungen sind, persifliert der Köln-Pariser Meister auf unnachahmliche Art und Weise zu einer humorvollen, dabei nicht minder tiefsinnigen Reise zum Zentrum des Homo Parisiens: zu unserer Seele.

Georges Bizet hatte bereits als junger Mann eine Vielzahl herausragender Kompositionen vollendet. Mit 17 die C-Dur Sinfonie, zwei Jahre später den Einakter Docteur Miracle, mit dem er einen Preis bei einem von Jacques Offenbach finanzierten Kompositionswettbewerb gewinnen sollte. Der Gewinn des Prix de Rome für junge Komponisten ermöglichte ihm ein dreijähriges Stipendium in der italienischen Hauptstadt. Die Oper Carmen und die Bühnenmusik zum Schauspiel L’Arlésienne gehören zu seinen meist gespielten Werken. Die Arlésienne komponierte Bizet im Jahr 1872 auf das gleichnamige Schauspiel von Alphonse Daudet. Aufgrund der großen Popularität der Musik stellte Bizet zunächst eine Suite aus mehreren Stücken des Werkes zusammen. Nach dem Tode des Komponisten erstellte Ernest Guiraud eine zweite Suite, die den Bekanntheitsgrad der Musik noch einmal steigerte. Den Erfolg seines Hauptwerks Carmen sollte Bizet leider nicht mehr erleben, die Uraufführung floppte aufgrund zahlreicher Brüche mit der damaligen Tradition der Opéra comique beim Publikum, wurde aber von Komponistenkollegen wie Debussy, Saint-Saëns und Tschaikowsky hochgelobt. Bizet starb 3 Monate nach der Uraufführung mit 36 Jahren an einem Herzanfall.

…Charles Gounod, Jules Massenet…

Thaïs‚ Weg von der sündigen Kurtisane in die weltliche Obhut Gottes zeichnet Jules Massenet in seiner gleichnamigen Oper nach. Die Méditation signifiziert den Moment des Nachdenkens Thaïs‘ über ihr bisheriges Leben, in der Entscheidung gipfelnd, den Weg zu Gott zu wählen. Dass Ordensbruder Athanaël, der ihr den Weg in die Rechtgläubigkeit ebnet, an ihrem Sterbebett von seiner Liebe zu ihr übermannt wird und die menschliche Liebe als die einzige Wahrheit erkennt, verdeutlicht in dramatischer Art und Weise das Ringen zwischen Gottesfurcht und Aufklärung, welches in Frankreich mehr als in den meisten anderen europäischen Ländern seit Langem eine rigorose Trennlinie zwischen Staat und Kirche zur Folge hat.

Aufklärung, allumfassendes Wissen sind das Ziel von Fausts Begierde, und dieses unstillbare Verlangen ist der Grund für Fausts Bereitschaft, für das Erlangen dieses Wissens die eigene Seele zu opfern. Bei Charles Gounod ist die Handlung, ganz französisch, auf das Drama von Margarethe und Faust konzentriert, und Fausts Interesse richtet sich weniger auf das, „was die Welt im Innersten zusammenhält“ als vielmehr auf das Streben nach Jugend und eroberter Liebe. Dass den Deutschen eines ihrer Heiligtümer derart vereinfacht und verfälscht daherkam, sorgte dafür, dass Gounods „Faust“ über Jahrzehnte nur als „Margarethe“ auf deutsche Bühnen gelangte, so aber zu einem großen Erfolg wurde. Diese Episode sagt viel aus über die beiden Nachbarn rechts und links des Rheins, die in ihrem Wesen so unterschiedlich sind und die doch so vieles eint.

… und Maurice Ravel

Eine simple Orchestrationsübung“, „ein Werk, dass überhaupt keine Musik enthält“ – mit diesen Worten beschrieb Maurice Ravel seinen monumentalen Boléro. Mit derart zynischen Äusserungen begegnete Ravel dem ungeheuren Erfolg, der dieser Komposition seit der Uraufführung bis heute beschieden ist und der ihm zeitlebens suspekt geblieben war. Zwei 16-taktige, scheinbar vor sich hin mäandernde Melodien, unter denen eine strenge 2-taktige rhythmische Trommelbewegung pulsiert, etwa 16 Minuten C-Dur und G-Dur im Wechsel, bilden das Gerüst dieses Wurms, der zunächst kein Ende finden will und doch viel zu früh ins strahlende E-Dur wechseln wird, um nur wenige Takte später, wieder in der Grundtonart angekommen, endgültig in sich zusammen zu brechen. Das wohl längste Crescendo der Musikgeschichte beginnt mit einer kleinen Trommel und ein paar Pizzicati in Celli und Bratschen und endet nach 340 Takten Dauerbeschuss in einem 68-stimmigen Schlag, der durch eine höchst wirkungsvolle Dissonanz im vorletzten Takt noch einmal dramatisch auf die Spitze getrieben wird. So lässt sich der Boléro vereinfacht analysieren, verständlich wird er dadurch aber noch längst nicht. Es ist kaum zu vermuten, dass ein durch und durch analytischer Komponist wie Ravel, einer, der keinen Ton dem Zufall überlässt und der dem Sinfonieorchester seiner Zeit eine ganze Palette neuer Klangfarben entlockt hat, eine Auftragskomposition tatsächlich nur als reine Instrumentationsaufgabe angesehen haben könnte. Die Absicht dahinter aber bleibt unausgesprochen, und der Zuhörer, der sich dem Stück hingibt, gelangt peu-à-peu ins Savoir-vivre des Nachbarlandes, ins Laissez-faire und in das Wissen, dass man nichts weiss, was von Bedeutung wäre. Und doch fühlt man sich mit diesem Wissen einen kurzen Augenblick lang besser als zuvor. Was in aller Welt wäre französischer?

Eine französische Nacht in Potsdam:

Eine französische Nacht mit Lise de la Salle

Lise de la Salle–Photo: Marco Borggreve

Vor der einzigartigen Kulisse des neuen Palais von Schloss Sanssouci feierte die Französische Kammerphilharmonie gemeinsam mit der französischen Pianistin Lise de la Salle den Abschluss der Musikfestspiele Potsdam. Als Höhepunkt eines musikalischen Feuerwerks wurde auch der Himmel über Potsdam in ein Lichtermeer verwandelt – auf dem Programm standen dabei Jacques Offenbachs Ouvertüren La belle Hélène und Orphée aux Enfers, Orchesterstücke aus George Bizets Oper Carmen sowie Maurice Ravels unsterblicher Boléro. Und Lise de la Salle interpretierte Frédéric Chopins 2. Klavierkonzert. Eine großartige Nacht, zumal auch das Wetter hervorragend mitspielte!

In ähnlicher Form spielte die Französische Kammerphilharmonie noch weitere Französische Nächte, unter anderem am 20.08.2016 in Heilbad Heiligenstadt mit dem Bariton Patrick Rohbeck und im Wittener Saalbau am 17.11.2016, gemeinsam mit dem Cellisten Samuel Lutzker.

Auf dem Programm unter anderem:

Maurice Ravel – Boléro

Jacques Offenbach – Ouvertüren zu La belle Hélène und Orphée aux enfers

Georges Bizet – Carmen-Suite

Jules Massenet – Méditation aus Thaiss

Dazu, je nach Solist, ein Solokonzert oder Chansons und Arien aus Opern und Operetten !